Für Dich.
Wir telefonierten gestern. Eigentlich wollte ich dich nur kurz zum Abend anrufen und über den Tag reden, und dann wurden aus drei Minuten fast drei Stunden. Die Zeit bediente sich mal wieder ihrer besonderen Fähigkeit, zu verfliegen; wohin? Ich weiß es nicht. Wohl in die Vergangenheit, in die Erinnerung, in etwas, das wir physisch nicht mehr betreten können, in einer weiteren Dimension aber wohl da ist, und zumindest dort tatsächlich variabel und nicht nur als ein menschliches Gefühl. Aus drei Minuten wurden drei Stunden, von einem Plausch über den vergangenen Tag zu der Rose, die neben mir ihr Dasein absaß und langsam, aber sicher den Lebenshauch ausatmete; die Blätter waren schon längst nicht mehr so wie früher, nicht mehr so intensiv rot leuchtend, nicht mehr so rosig duftend, nicht mehr… so wie früher eben. Das intensiv Rote war einem Tiefrot, das Feine, Weiche, einem Trockenen, unveränderlich Starren gewichen, und das gesengte Haupt, als würde sie sich vor mir verneigen, war zu einem hängenden Kopf geworden. Da war es wieder, das Handwerk der Zeit, der Lauf des Lebens, die Endlichkeit. Aber so ist das wohl, mit diesen „Rosen“. Nur, dass es für sie von Anfang an klar sein muss. Oder ist es das nicht? Für mich als Beobachter ist ihre Endlichkeit unausweichlich allgegenwärtig, aber für sie? Sie weiß es nicht, strahlt, als gäbe es kein Ende, zeigt sich in ihrer schönsten Pracht; sie lebt nicht, um zu sterben; sie lebt, um zu erleben, zu fühlen, zu erinnern. Und wird sie minder schön? Es ist die Schönheit des Lebens, die der Schönheit der Erinnerung weicht. Wenn ich sie anblicke, sehe ich all das, was sie einmal war, all die Pracht, all das Leben. Aber auch ihre Anmut im Ruhen. Sie soll es verdient haben. Alles hat ein Ende, nur das macht das Gelebte besonders. Ihr Lebenshauch strömt nun woanders, und so soll es wohl auch sein.
Drei Minuten wurden zu drei Stunden, und dann fing ich an, über das Leben zu reden. Über das Leben, angesichts des nahenden Niedergangs der Rose, die mir die Endlichkeit vor Augen führte. War es ein Zufall, dich zu treffen? Hätte ich dich auf kurz oder lang treffen müssen, oder warst du nunmal am rechten Ort zur rechten Zeit, ohne Notwendigkeit einer Begegnung? Hätte es „dich“ überall gegeben? Überall eine Art von „dir“, die genauso gut gewesen wäre? Oder hätte ich weitersuchen müssen? Ist jedes unserer Leben ein Theaterstück, das im Hauptkern geschrieben steht; in dem es Protagonisten gibt, Statisten, Antagonisten und Zuschauer? Wie sonst erklärst du mir die Tatsache, dass Menschen, die einander nicht kennen, sich so innig ineinander verlieben können, als wären sie getrennte Hälften? Wie erklärst du mir, dass es mit manchen Menschen einfach funktioniert, sich einfach so anfühlt, als hätte man schon eine Ewigkeit miteinander verbracht, auch wenn es erst Wochen waren? Wie erklärst du mir, dass ich genau die Menschen finde, mit denen ich die Stille umarmen kann? Oder sind sie eben doch nur einige von vielen, die es überall gegeben hätte; und ich habe nunmal diese Versionen hier gefunden? Ist es doch alles nur Zufall? Vielleicht ich es ja ein schöner Gedanke, wenn es purer Zufall ist, und man trotzdem so innig fühlen kann mit diesen… „Zufälligen“.
Aber der Gedanke macht auch einsam; weniger einzigartig, weniger besonders. Ich hätte dich nicht treffen müssen, nichts zwischen uns war notwendig, ich hätte überall mein Glück und meine Versionen von Menschen gefunden, über die ich genau das denke, was ich gerade schreibe: es fühlt sich so besonders mit dir an, aber es hätte „dich“ überall gegeben. Du bist nicht „ausgewählt“, nicht „auserwählt“, es gibt keine innige, natürliche, notwendige Verbindung zwischen uns, es ist nicht dieses: „wir sind füreinander bestimmt“. Und man wird zurückgelassen mit dem Gefühl der Einsamkeit in der Masse, dem Fremdsein in Gesellschaft, dem Zweifeln im Glauben. Eigentlich bist du auf dich gestellt. Nur du bist die, bei der es irrelevant ist, ob es so gewollt war. Dich musstest du nunmal treffen, ob du es wolltest oder nicht. Nur du bleibst bei dir, gehst mit dir von Anfang bis Ende; dich gibt es nirgendwo genauso gut, genauso passend; und dich hätte es in jedem Leben, in jedem Universum gegeben, in jedem Leben an deiner Seite.
Du bist dein, nur dein.
Es ist nicht dieses: „wir sind füreinander bestimmt“; nur ich, als Unwissende, weil ich es nicht überblicken kann, selbst in meinem Theaterstück mitspiele, selbst meine Rolle nicht ablegen kann, denke, es wäre so. Und vielleicht ist es so auch besser. So kann ich es zu etwas Besonderem machen. Weil ich es nicht weiß. Weil es mir keiner sagen wird, kann ich in meiner eigenen kleinen, gemachten Welt leben, so wie sie, wie sie, wie sie mir gefällt. Nicht wahr?
Oder gibt es eine höhere Macht, die unseren Weg steuert? Der Gedanke an einen Gott gefällt mir zwar nicht, aber es würde zumindest manche Grübeleien vereinfachen. Oder, wer ist eigentlich das Publikum bei meinem, deinem, unserem Theaterstück? Was ist, wenn wir selbst das Publikum sind, fragst du? Unser eigenes Publikum unseres eigenen Theaterstücks? Ist das nicht ein merkwürdiger Gedanke? Vielleicht ist alles nur ein Traum und wir gucken uns dabei zu; ein Traum, in dem all die physikalischen Gesetzte gelten, die wir entdeckt haben, und nur nachts, wenn wir schlafen, uns ausruhen, unser Bewusstsein herunterfahren, nehmen wir Kontakt mit unserem Publikum auf, mit uns selbst, die wir uns zugucken; wir geben uns Feedback, verarbeiten und bewerten die Aufführung, geben kreative Hinweise, und machen uns dann auf in eine neue Aufführung, eine Fortführung. Für uns. Vor uns. Mit uns. Und keiner kann es dir sagen. Ich kann nur sagen, dass meine nächtlichen Erlebnisse verschwimmen mit denen am Tag. Sie haben so viel gemeinsam, sind ineinander verworren, helfen sich gegenseitig, ohne das eine, wäre das andere nicht. Ich weiß, das ist alles Gehirngespinst; aber da wir alle in unserer Aufführung beschäftigt sind, kann mich keiner kurz wachrütteln und mich fragen: Träume oder wache ich? Was ist träumen, was ist wachen, was kann ich wissen, was sollte ich wissen? Wir wissen noch nicht mal genau, was Bewusstsein ist. Vor allem ist das Bewusstsein beim Träumen, vor allem Klarträumen, nicht ausgeschaltet. Es ist hellwach. Es ist da, irgendwo in einer Welt, von der ich nicht sehr viel zu sagen vermag: Ist es Traum oder Realität? Realität heißt realisieren, real sein… Was realisieren? Wie soll ich etwas realisieren, wenn ich mir im Traum noch nicht mal darüber klar werde, dass ich träume; vielleicht werde ich mir in der Realität auch nicht darüber klar, nur scheinbar; wenn ich keine Musterlösung habe, bei der ich die Wahrheit abgleichen kann, die mir die wahre Antwort gibt? Wahrheit ist nochmal ein ganz anderes, großes Thema. So wenig ist wahr. Und so oft, wie ich getäuscht werde, bin ich mir über den Wahrheitsgehalt, über die Definition und die Realisation von „Wahrheit“ gar nicht mehr im Klaren.
Ich glaube, oft merkt man nicht, was für ein Potential in einem steckt, was ein wandelndes, lebendes Experiment wir sind, bei dem wir selbst so viel ausprobieren, so viel lernen können. All die Ungewissheit über sich selbst, die Zeit, in der man nachts keine Kontrolle hat, oder zumindest scheinbar; wie der Körper von selbst zwei Welten erschafft und bewohnt, diese verknüpft. Wir denken, wir wüssten so viel, und in Wahrheit, wenn ich das Wort überhaupt benutzen kann, wissen wir nur allzu wenig. Vielleicht ist es gar nicht so verkehrt, mich selbst mit „du“ anzusprechen, anstatt „ich“ zu sagen. Allzu oft kenne ich dieses „Ich“ viel weniger als gedacht; bin überrascht davon, enttäuscht, überwältigt. Und ich müsste lange grübeln, wenn du mich fragtest, wer dieses „Ich“ sei und was es ausmache. Das lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen. Es lässt mich fühlen, als wäre ich nicht ganz Herr im eigenen Körper, ein Beobachter, der in seinem eigenen Experiment drinsteckt; der zusehen muss, wie ihn Gefühle übermannen, das Steuer in die Hand nehmen, und einen anderen Kurs auf dem tosenden Meer einschlagen, und schlussendlich das ersehnte Festland finden. Und es versteckt Wunder, Ungewissheit erzeugt Glaube, Fantasie, Potential, und Poesie, in der ich von Gedanken über die Ungewissheit schreibe, die mir den Kopf zerbrechen. Aber es hält das Besondere für mich bereit, dass ich mich immer so immer aufs Neue kennenlernen kann, Neues über mich erfahren, von mir begeistert sein kann. Ich bin nie allein. Denn da ist ja noch dieses seltsame „Du“. Dieses seltsame „Ich“, dass bei mir, bei dir, bleibt.
Glaubst du an Wiedergeburt, fragst du nun. Wiedergeburt? Das Konzept ist von den Religionen gekapert, eingenommen und beschmutzt mit Zwang, strikten Regeln und all den Skandalen, die die Religion sich so angehäuft hat. Und der Gedanke, dass Gott am Anfang geteilt wurde, und wir die Teile Gottes sind, die sich nach dem Tod wieder vereinen? Wir also alle ein „Gott“ sind? Das schmeichelt mir einerseits … und hebt wieder die Macht und das Potential eines jeden hervor, aber du sagst zurecht: wo bleibt dann unsere Individualität? Im Leben! sage ich. Du hast deine irdische Individualität durch das, was du tust, machst, bist. Nach dem Tod vereinen wir uns wieder, verrotten in der Erde, geben uns dem Kreislauf der Natur wieder, werden wieder in unsere Bestandteile zersetzt, die einst aus Sternen kamen. Wir vereinen uns sowieso, und sind auch immer vereint gewesen durch unsere Geburtsstätte in den leuchtenden Punkten droben in den Weiten.
Was hältst du von Paralleluniversen, frage ich dann zurück. Da könntest du den Gedanken der Wiedergeburt weiterverfolgen; dort triffst du jede andere Entscheidung, die du hier nicht getroffen hast, lebst dein Leben in jeder möglichen Ausmalung.
Dort zapfe ich mir dann etwas Energie ab, denn so langsam werde ich müde, sage ich. Vielleicht gibt es da sowas wie Energieerhaltung nicht ;) auch auf psychischer Ebene. Aber da gefiel mir dann die Idee von Individualitätsverlust und verlorener Einmaligkeit wieder nicht mehr. Denn, was macht dich dann noch über alles gesehen aus? Sind es nicht die Handlungen, die Entscheidungen, die du triffst, die dich zu dem machen, was du bist, was dich ausmacht? Ein Individuum in jedem Universum, aber nicht in allen gleichzeitig. Zusammen wären wir dann doch alle gleich…? Und womöglich würde man sich nicht mehr so sehr anstrengen, weniger durchdachte Entscheidungen treffen, denn in dem Universum dort drüben habe ich es ja sowieso anders gemacht. Jaja, ich weiß, Gehirngespinst. Von den anderen bekommt man ja nichts mit, zumindest noch nicht. Somit bleibt unseres zunächst einmal einzigartig und das einzige Universum, in dem wir uns Mühe geben müssen, das zu tun, was für uns das Beste ist in jedem Moment; als gäbe es nur das hier, nur das eine Leben, das vergeht.
Und was würdest du tun, wenn du nochmal leben könntest? Würdest du etwas ändern oder genauso noch einmal dein Leben erleben. Von wegen: was wäre, wenn…
Du meintest: das kann ich erst am Ende meiner Tage beurteilen, ich weiß ja nicht, wo es hingeht, und jetzt gerade wollte ich nichts verändern. Denn, weiß ich, ob ich die Menschen wieder treffe, die ich diesmal in meinem Leben begrüßen durfte, ob ich sie auch dann wiedersehe? Sie sind mir zu wichtig, ich möchte nicht ohne sie leben, wenn mein Leben anders verläuft. Auch in den Paralleluniversen; weiß ich da, dass ich all die Menschen wieder treffe, die ich gerade in meinem Leben habe? Das würde ich gerne wissen. Denn, wie heißt es so schön? In every other universe…we will meet again. Oder vielleicht: in another universe… hopefully.
Aus drei Minuten wurden drei Stunden, von einem Plausch über den vergangenen Tag zu der Rose, die neben mir ihr Dasein absaß und langsam, aber sicher, den Lebenshauch ausatmete. Aus drei Minuten wurden drei Stunden, und dann fing ich an, über das Leben zu reden. Aus drei Minuten wurden drei Stunden und so landete unser kleiner Gedankenflieger nach seinem Ausflug wieder dort, wo alles begonnen hatte; ob es Menschen gibt, die man treffen muss oder alles nur Zufall ist.
Und dann meinte ich, dass das Schöne doch an all dem sei, dass man sich aussuchen kann, was man denkt und glaubt und fühlt. Weil es keiner beweisen kann. Hier kann dein Gedankenflieger die Welt erkunden, wo er will; unerforschtes Terrain entdecken, überfliegen, landen wenn er möchte, oder schnell vorüberfliegen. Dass sich jeder aussuchen kann, welcher Gedanke ihn glücklich macht, ihm Kraft spendet und motiviert, sein Potential auszuschöpfen. Entdecke deine Wahrheit, entdecke dein „wahr“. Natürlich nur so lange, wie du es bei dir behältst, du Fakten belässt und niemandem schadest, niemandem den Luftraum für sein eigenes Gedankenschiffchen nimmst.
Und das ist auch genau dein Glück, dass du offen bist für alles, deine Quellen unerschöpflich sind, du in einer endlosen Gedankenwelt voller Fantasie, Möglichkeit und Wunder steckst. Glaube an Wunder, und sie werden dich finden. Deine eigene Art von Wunder. An die nur du zu glauben brauchst, für die es keine anderen bedarf. Denn da ist ja eben dieses seltsame „Du“. Dieses seltsame „Ich“, das bei dir bleibt.
In Ewigkeit,
Dein Du.